Der Beginn der Inklusions-Initiative

Eine Gruppe von Menschen mit und ohne sichtbare Behinderungen sind vor dem Bundeshaus in Bern versammelt. Sie halten Schilder auf denen steht "Inklusion jetzt". Viele tragen eine hygienische Mundschutzmaske. Zuvorderst ist Islam Alijaj erkennbar.

Am 15. September 2021, dem Tag der Demokratie, kündigte Islam Alijaj zusammen mit anderen Menschen mit Behinderungen auf dem Bundesplatz in Bern an, mit Unterstützung der Stiftung für direkte Demokratie eine Inklusions-Initiative lancieren zu wollen. Fotocredit: Daniel Graf

In seinem biografischen Buch «Wir müssen reden», das Islam Alijaj zusammen mit Christine Loriol 2023 geschrieben hat, erzählt er mehr über die Anfänge der Inklusionsinitiative: Wie aus einem Gefühl eine Idee entstand, die immer mehr Menschen mit und ohne Behinderungen inspirierte, die Unterstützung von Organisationen gewann und nun als Volksinitiative auf die Zielgerade einbiegt.

Der erfolgreiche Abschluss der Unterschriftensammlung ist ein Etappensieg, den wir am 5. September 2024 in Bern gemeinsam feiern wollen. Dies im Wissen, dass mit der parlamentarischen Phase ein weiterer Marathon folgt, der mehrere Jahre in Anspruch nehmen wird.

Die Bewegung für eine inklusive Schweiz hat noch einige Hürden zu nehmen. Gerade in schwierigen Zeiten, die es wohl geben wird, ist es gut, sich an die Anfänge zu erinnern. Sie zeigen, wie weit wir gemeinsam mit Visionen, Mut und Entschlossenheit gekommen sind.

Hier ein leicht gekürzter Ausschnitt aus dem Kapitel «Nichts über uns ohne uns», in dem Islam Alijaj erzählt, wie die Inklusions-Initiative ins Rollen kam und zu einer politischen Bewegung wurde.

Es braucht einen «Big-Bang»

Wie so oft begann es mit einem Gefühl. Ich nahm jedes Jahr an der Tagung «Die Rechte von Menschen mit Behinderungen» teil, die von Staatsrechtsprofessor Dr. Markus Schefer mitorganisiert wird. Er ist in der Schweiz der Einzige, der sich schwerpunktmässig aus rechtswissenschaftlicher Sicht mit den Grund­- und Menschenrechten von Menschen mit Behinderun­gen auseinandersetzt. Schefer sagt, die­ses Rechtsgebiet habe es zuvor gar nicht gegeben und dass hier grosser Handlungsbedarf bestehe: «Es ist dringend nötig. Und man kann etwas bewegen.» Schefer hat Behindertengleichstel­lungsgesetze ausgearbeitet und ist Mitglied des UNO­-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. 

Ich nahm also jedes Jahr und mit wachsendem Interesse an der Basler Tagung teil. Und jedes Jahr spürte ich, dass es eigentlich einen Big Bang bräuchte, um den Knoten zu lösen und die Inklu­sion anders ins Bewusstsein der breiten Bevölkerung zu bringen. Dieses «nur so ein Gefühl» wurde von Jahr zu Jahr dringlicher. Als die damalige SP­ Ständerätin Pascale Bruderer Präsidentin von Inclusion Handicap wurde, wusste ich: Das ist meine Chance. Ich konnte – damals noch als Präsident von selbstbestimmung.ch – in der Arbeitsgruppe für den «Schattenbericht» teilnehmen, der 2017 vorgestellt wurde. Und wieder wuchs das Gefühl: Es braucht einen grossen Wurf. 

2015 hatten der Dachverband agile.ch und die Selbsthilfeorganisati­on Procap die Petition «Politische Partizipation von Menschen mit Behinderung» eingereicht. Im Oktober 2017 hörte die Stän­derätliche Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit Vertreter:innen von Behindertenorganisationen an. Und Pascale Bruderer lud mich ein, vorzusprechen. Das war ein Erlebnis! Ich, der kleine Islam mit Cerebralparese und Migrations­hintergrund, im Ständerat! 

Die Kommission beantragte am Ende dem Ständerat, der Petition keine Folge zu geben. Sie schrieb in ihrem Bericht, sie wolle damit «nicht die Bedeutung der Anliegen schmälern», aber sie lehne die Petition ab, «da sie zurzeit keinen gesetzgeberischen Handlungsbedarf sieht». Ich wusste: Über diese Schiene kannst du es eh vergessen. 

Der Funke springt am Tag einer Niederlage

Das Big­-Bang­-Gefühl begann mich zu plagen. In dieser Zeit las ich immer häufiger von Daniel Graf und WeCollect. Die Platt­form für direkte Demokratie startete 2015, wurde Jahr um Jahr grösser und wichtiger, um Referenden zu lancieren und sogar er­folgreich durch eine Abstimmung zu bringen. 

2018 kam es zur Abstimmung über das Referendum gegen die Überwachung von Versicherten («Versicherungsspione»), das von Anwalt Philip Stolkin, Schriftstellerin Sibylle Berg und Campaigner Dimitri Rougy ergriffen worden war. 11'000 Personen hatten auf WeCol­lect online versprochen, sich für das Referendum zu engagieren, nach 62 Tagen hatten sie weit über 60 000 Unterschriften bei­sammen und konnten 55'421 gültige einreichen. Daniel Graf, er war Mitglied im Referendums­-Komitee, sagte der Wochenzeitung «WOZ»: «Wir haben zahlreiche Leute erreicht, die noch nie ge­sammelt haben.» Und die «WOZ» folgerte: «Die Crowd aus dem Internet hat sich also auch auf der Strasse bewährt.» Ich fand das grossartig.

Daniel Graf kannte ich nur aus den Medien, aber es war mir klar, wenn ich das Thema Behinderung in den Mainstream bringen möchte, brauche ich Leute wie ihn. Deshalb fuhr ich am Abstim­mungssonntag im November 2018 mit meiner ganzen Familie nach Bern. Dort lud das Referendumskomitee zu Kaffee und Kuchen ein, um gemeinsam die Resultate zu feiern. Dass das Referendum überhaupt zustande gekommen war, galt als Erfolg, auch wenn 64,7% der Stimmbevölkerung dafür waren, dass Sozialversiche­rungen ihre Versicherten auch künftig bei Verdacht überwachen können.

Wir lernten einander also am Tag einer Niederlage kennen. Und doch sprang genau dort der Funke für ein neues, gemeinsames Projekt. Ich erinnere mich noch, wie mein Sohn mit Daniels Sohn spielte und neben ihm stand, als er eine Rede hielt. Das war ein gutes Zeichen. An diesem Tag sprachen wir zum ersten Mal über die Idee einer Volksinitiative von und für Menschen mit Behinde­rungen. 

Im folgenden Jahr richtete Daniel Graf erstmals das Demo­kratie­-Festival BETA in Basel aus, an dem auch die Stiftung für direkte Demokratie startete. Ich bekam die Möglichkeit, in einem Workshop auszuarbeiten, wie eine Initiative aufzugleisen ist, die von Menschen mit Behinderungen federführend getragen wird. An diesem 13. September 2019 stieg ich in den Zug zurück nach Zürich und hatte einen Plan für eine Inklusions-Initiative. Doch danach passierte vorerst nichts weiter. Ich war von meinem ersten Wahl­kampf für den Nationalrat absorbiert, und 2020 kam Covid­.

Stunt vor dem Bundeshaus

Erst im Frühjahr 2021 kontaktierte ich Daniel Graf erneut, um ihn auf den Dokumentarfilm «Handicap Behinderung – Das Mär­chen von der Inklusion» von François Loriol hinzuweisen. Danach wurde es recht schnell konkret. Für mich war längst klar, dass ich ohne WeCollect und ohne die Stiftung für direk­te Demokratie nie einen Big Bang wagen würde. Daniel Graf wur­de der Gamechanger für mich – und letztlich für alle Menschen mit Behinderungen. Und für ihn war es eine Möglichkeit, aufzu­zeigen, wie eine Bevölkerungsgruppe, die konsequent ausgeschlos­sen wurde, sich in den direkt­demokratischen Prozess einbringen kann, um die Spielregeln zu ändern. Ein solches Projekt versprach, eine steile Lernkurve für alle zu werden.

Die Stiftung für direkte Demokratie unterstützte unseren Ver­ein Tatkraft am Anfang in den Vorbereitungsarbeiten für die me­diale Ankündigung der Initiative. Am 15. September 2021, am Tag der Demokratie, waren wir auf dem Bundesplatz – Menschen mit Behinderungen und ihre Verbündeten – und sagten: «Hey, wir Menschen mit Behinderungen sind auch Teil der Schweizer Demo­kratie! Und wir kämpfen für ein selbstbestimmtes Leben und eine inklusivere Gesellschaft. Wir kommen mit einer Inklusions-Initia­tive!»

Eine schlagkräftige Allianz entsteht

Sehr bald kam Inclusion Handicap auf uns zu, namentlich Caroline Hess­-Klein, und fragte, ob wir zusammen sitzen wollten und was genau wir in einen Verfassungsartikel packen würden. Wir fanden uns und entschieden, eine Arbeitsgruppe zu schaffen, um den Initiativtext zu erarbeiten. Es war ein Glücksfall, dass Professor Schefer, der sich am Austausch von Anfang an beteiligt hatte, bereit war, den Initiativtext zu schreiben. So wür­de niemand sagen können, dass der Initiativtext nicht fundiert und durchdacht sei. 

Wir erstellten für den Text einen Wunsch­katalog. Den ersten Entwurf schickten wir in eine aufwändige und sehr wichtige partizipative Vernehmlassung an Menschen mit Behinderungen, an interessierte Verbände und alle Interes­sierten, die sich äussern wollten. Dieses partizipative Verfahren konnten wir nur dank der Unterstützung von Pro Infirmis aufglei­sen. Der Entwurf von Professor Schefer entwickelte durch diese Vernehmlassung inhaltlich eine höhere Prägnanz und gewann Akzeptanz in der Behindertenbewegung. 

Wir können heute mit Stolz sagen: Das ist kein Text aus dem stillen Kämmerchen, sondern der Text einer grossen Gruppe von Menschen mit Behinderungen und ihren Verbündeten. Im Dezember 2022 haben wir ihn bei der Bundeskanzlei eingereicht. Aus einem Gefühl wurde eine Allianz.

Innerhalb nur eines Jahres entschieden weitere Organisationen, die Inklusionsinitiative zu unterstützen: die beiden Dachverbände agile.ch und Inclusion Handicap mit ihren Mitgliede­rganisatio­nen. Es war für uns wichtig, sie von Anfang an dabei zu haben. Es ist beiden nationalen Dachorganisationen hoch anzurechnen, dass sie sich auf unser abenteuerliches Projekt einliessen und von Beginn an viel Fachkompetenz einbrachten. Als Mit­initiantin konnten wir später – und das ist eine Premiere – die Menschenrechtsorgani­sation Amnesty International gewinnen. 

Vor dem Start 

2023 ist das Startjahr der Unterschriftensammlung. Wir wollen unbedingt inklusive Sammeltage veranstalten. Das heisst, wir ver­suchen, fürs Sammeln von Unterschriften Assistenzleistungen zur Verfügung zu stellen, Schulungen zu machen und Unterlagen zu erarbeiten, damit so viele Menschen mit Behinderungen wie mög­lich selber teilnehmen und sammeln können. 

Wir wollen das, was wir fordern, vorleben. Auch in der Phase der Unterschriftensamm­lung. Und ich möchte dann sehen, wie dereinst in der «Abstim­mungs­-Arena» im Schweizer Fernsehen bürgerliche Politiker:in­nen den anwesenden Menschen mit Behinderungen ins Gesicht sagen, dass sie «Kostenfaktoren» seien ... Das würden sie wahr­scheinlich nicht tun. Deshalb ist es so wichtig und matchentschei­dend, dass wir uns selbst als Aktivist:innen, Lobbyist:innen und Campaigner:innen bei der Initiative engagieren. Jede Person auf ihre Art und im Rahmen ihrer Möglichkeiten, unterstützt durch uns.

Auszug aus dem Buch von Islam Alijaj und Christine Loriol: «Wir müssen reden: Ein biografisches Manifest», Limmatverlag, 2023

https://www.limmatverlag.ch/programm/titel/941-wir-muessen-reden.html

Die Einreichung der Inklusions-Initiative findet am Donnerstag, 5. September 2024 in Bern statt.

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Medienupdate Einreichung 5.9.2024