Interview: Ein historischer Moment!

Mit einem neuen Inklusionsgesetz will Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen sicherstellen und mehr Selbstbestimmung ermöglichen – beim Wohnen und bei der persönlichen Assistenz. Ein historischer Erfolg für die Unterstützer:innen der Inklusions-Initiative. Im Interview erklärt Nationalrat und Mitinitiant Islam Alijaj, wie er den Gegenvorschlag des Bundesrates bewertet – und warum der Weg zur echten Inklusion noch lange nicht zu Ende ist.

Interview: Daniel Graf

Islam, der Bundesrat kündigt einen Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative an. Wie bewertest du diesen Schritt?

Das ist ein historischer Moment für die Schweizer Inklusionspolitik. Der Bundesrat hat endlich den dringenden Handlungsbedarf erkannt. Dass er ein Inklusionsgesetz schaffen will, zeigt: Unsere Initiative hat bereits vor der Abstimmung erste Früchte getragen. Die über 107'000 Unterschriften haben ein klares Signal gesetzt.

Was bedeutet Inklusion für dich persönlich?

Als Selbstbetroffener erlebe ich täglich, dass nicht meine körperlichen Beeinträchtigungen das eigentliche Problem sind. Behindernd sind die Barrieren in unserer Gesellschaft – die Treppe vor dem Geschäft, die fehlende Assistenz, die verwehrten Chancen in der Bildung oder im Arbeitsleben. Inklusion bedeutet, diese Hindernisse systematisch abzubauen.

Der Gegenvorschlag konzentriert sich stark auf das Thema Wohnen. Reicht das?

Nein, definitiv nicht. Wohnen ist wichtig, aber Inklusion muss alle Lebensbereiche umfassen. Bildung, Arbeit, Kultur, Freizeit – überall braucht es Verbesserungen. Auch der Zugang zu technischer und persönlicher Assistenz ist ungenügend. Deshalb halten wir weiterhin an der Inklusions-Initiative fest. Sie gibt auch den Kantonen einen klaren Auftrag für eine umfassende Inklusionspolitik.

Die Schweiz hat die UNO-Behindertenrechtskonvention bereits vor zehn Jahren ratifiziert. Warum braucht es jetzt noch diese Initiative?

Die Umsetzung der Konvention kommt schlicht zu langsam voran. Die Gesetzgebung beschränkt sich bisher weitgehend auf bauliche Massnahmen. Bei der tatsächlichen Gleichstellung, bei der Assistenz, beim Zugang zu Bildung und Arbeit – überall hinken wir im internationalen Vergleich hinterher.

Du sprichst von einem Paradigmenwechsel. Was meinst du damit?

Wir müssen wegkommen von der Vorstellung, Menschen mit Behinderungen seien einfach hilfsbedürftig. Wir haben Rechte und Pflichten. Das müssen wir einfordern können. Das bedeutet auch: Nichts über uns ohne uns. Wir müssen systematisch in politische Entscheidungen einbezogen werden.

Welche konkreten Verbesserungen bringt eine Inklusionspolitik?

Von Barrierefreiheit profitieren alle – auch ältere Menschen oder Eltern mit Kinderwagen. Vor allem aber geht es um Selbstbestimmung und Eigenverantwortung. Nur wer Zugang zu Bildung und Arbeit hat, kann seine Existenz selbst bestreiten. Das entlastet übrigens auch die Sozialwerke.

Wie geht es jetzt weiter?

Der Bundesrat muss seinen Vorschlag noch ausarbeiten und in eine Vernehmlassung schicken. Dann liegt der Ball beim Parlament. Es muss den Gegenvorschlag des Bundesrates beraten und verschiedene Gesetze koordinieren. Wir werden diesen Prozess sehr genau begleiten. Die starke Unterstützung für unsere Initiative gibt uns Rückenwind. Die Zeit ist reif für eine echte Inklusionspolitik.

Islam, besten Dank für das Gespräch.

👉🏼 Für mehr Informationen:  Medienmitteilung des Bundesrates und Medienmitteilung Verein für eine inklusive Schweiz vom 23.12.2024

Eine Gesellschaft ohne Barrieren

Das vom Bundesrat angekündigte Inklusionsrahmengesetz markiert einen grundlegenden Wandel in der Schweizer Behindertenpolitik. Der Gegenvorschlag zur Inklusions-Initiative orientiert sich an der UNO-Behindertenrechtskonvention, die die Schweiz 2014 ratifiziert hat. Sie versteht Inklusion als gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die sich durch alle Lebensbereiche zieht –  von Bildung und Arbeit über Wohnen bis hin zu Kultur und Freizeit.

Der neue Ansatz geht von einer einfachen Erkenntnis aus: Behindernd sind oft nicht die körperlichen oder psychischen Einschränkungen, sondern die Hindernisse in unserer Gesellschaft. Eine Rollstuhlfahrerin ist nicht durch ihre Mobilitätseinschränkung behindert, sondern durch die Treppe vor dem Geschäft.

Die UNO-Behindertenrechtskonvention gibt die Richtung vor: Statt Menschen mit Behinderungen als hilfsbedürftig zu betrachten, werden sie als Träger:innen unveräusserlicher Rechte anerkannt. Dieser rechtebasierte Ansatz ist das Fundament einer Inklusionspolitik: Öffentliche Räume werden von Anfang an für alle zugänglich geplant, Informationen stehen auch in einfacher Sprache zur Verfügung, Arbeitsplätze werden flexibel gestaltet und selbstbestimmtes Wohnen wird zur Norm.

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Indirekter Gegenvorschlag: Was bedeutet das?